Historischer Hintergrund

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war die Sowjetunion, die Großmacht, die noch kurz zuvor die Weltmacht anstrebte, nicht mehr imstande mit der technologischen Entwicklung des Westens Schritt zu halten, geriet beim Wettrüsten ins Hintertreffen, das selbst so noch die Kapazitäten des Landes aufs Äußerste strapazierte. Unter diesen Umständen wurde es für Moskau immer schwerer, die Satellitenstaaten weiterhin zu halten. Dieser Umstand und Krise, die die Staaten der Peripherie und Halbperipherie am Ende der 80er Jahre erreichte, führten zu einem sehr schnellen Zusammenbruch der Systeme des Staatssozialismus. Der Wandlungsprozess führte bis hin zur neuen Unabhängigkeit der vormaligen Satellitenstaaten. Unter den Ländern Ost- und Mittelosteuropas waren Ungarn und Polen die ganze Zeit über gemeinsam die Spitzenreiter dieser Veränderung. Die sich gegenseitig verstärkenden Ereignisse beschleunigten sich plötzlich, und die Errungenschaften, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen waren, wirkten sich vor allem im Sommer 1989 in der österreichisch-ungarischen Grenzregion aus. Dieses Jahr ging zu Recht unter dem Namen Jahr der Wunder – annus mirabilis – in die Geschichte ein.


Foto: Tamás Lobenwein


Die Führung der DDR, die wie gelähmt die Veränderungen verfolgte, wurde 1989 sozusagen selber zum Gefangenen, und zwar nicht nur ihrer eigenen Politik, sondern – bezeichnenderweise – auch ihrer eigenen wie Geiseln behandelten Staatsbürger. Die Ost-Berliner kommunistische Führung sah tatenlos zu wie immer mehr Ostdeutsche massenweise endgültig der Aussichtslosigkeit entflohen. Sie wollten in erster Linie in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln. Um das sozialistische System hinter sich lassen zu können, schien ihnen der Weg über Ungarn am günstigsten, vor allem deshalb, weil am 2. Mai 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze die Demontage des Eisernen Vorhangs offiziell angekündigt worden war. Diese Tatsache löste eine Flut von Gerüchten aus, die glauben ließen, dass nur ein kleiner Spaziergang die Flüchtlinge von Österreich und der freien Welt trennte. So einfach war es aber nicht. Illegale Grenzgänger wurden weiterhin von der ungarischen Grenzpolizei aufgehalten, es wurde sogar die mobile Grenzraumüberwachung eingeführt, die es ermöglichte, potentielle Flüchtlinge schon aus dem weiteren Grenzraum zurückzuschicken. Neben Nachrichten über die Demontage des Eisernen Vorhangs, eine weitere aus völkerrechtlichen Sichtpunkt bedeutendere Änderung vollzog sich in der Beziehung der beiden Staaten – Um für die Situation der aus Rumänien kommenden ungarischen Flüchtlingen eine Lösung zu finden – trat Ungarn am 17. März 1989 der UN Flüchtlingskonvention bei. Der Beitritt trat am 12 Juni in Kraft. Der Beitritt überschrieb alle bisherigen bilateralen Auslieferungsabkommen. Dadurch änderte sich auch der bisher übliche Verfahren bei der Auslieferung von DDR Grenzen-Übertreter. Schon im Laufe des Sommers wurden ernste diplomatische Verhandlungen geführt, um die Situation der ostdeutschen Staatsbürger zu klären, die sich in Ungarn - inzwischen viele - angesammelt hatten. Allerdings führten diese Verhandlungen lange Zeit zu keinem Ergebnis. In dieser Lage kam der Initiative der damaligen Opposition, an der österreichisch-ungarischen Grenze eine Feier für die europäische Einheit zu organisieren, eine besondere Bedeutung zu. Eben jenem Paneuropäischen Picknick, das auf Anregung von Jugendlichen aus Debrecen von oppositionellen Organisationen in Sopron ins Leben gerufen wurde. Imre Pozsgay und Otto Habsburg wurden gebeten, die Schirmherrschaft für die Veranstaltung zu übernehmen. Am 19. August 1989 erschienen vor dem offiziellen, für 15 Uhr geplanten Programmbeginn Flüchtlinge aus der DDR am Schauplatz der Veranstaltung, und durchbrachen in mehreren Wellen die Grenze. Die von ihren Vorgesetzten allein gelassenen und zur „Freiheit verurteilten“ ungarischen Grenzpolizisten verhinderten diese Flucht nicht, die so zur ersten wirklich spektakulären Aktion der deutschen Wiedervereinigung wurde.


Foto: Tamás Lobenwein


Die streng geheimen Verhandlungen zwischen Ungarn und der BRD nach dem Paneuropäischen Picknick, führten zur offiziellen Grenzöffnung am 11. September und die Evakuierung der DDR-Bürger vollzog sich.


Foto: Tamás Lobenwein


Der Grenzdurchbruch, der „Exodus“ der DDR-Flüchtlinge führte über die Aufweichung der ostdeutschen Diktatur zur deutschen Wiedervereinigung, und das bedeutete auch die Wiedervereinigung Europas. Bundeskanzler Helmut Kohl bedankte sich dafür mit den folgenden Worten: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer gebrochen”.
Viele halten die berühmte Rede von Winston Churchill in Fulton für den Beginn des Kalten Krieges und der zweipoligen Weltordnung. Der damalige britische Ministerpräsident sagte in dieser Rede, es habe sich von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria ein Eiserner Vorhang über Europa gesenkt. Tatsächlich lässt sich der Kalte Krieg nicht an eine einzige Rede, einen einzigen ausgesprochenen Satz binden, aber Churchills Aussage hatte einen metaphorischen Gehalt und markierte symbolisch eine Zeitenwende in der Geschichte Europas und der Welt. Wenn wir damit einverstanden sind, können wir wohl auch festhalten: auch das Paneuropäische Picknick markiert eine Zeitenwende. Mit dem Durchbrechen des „Eisernen Vorhangs“ verabschiedeten sich nicht nur die anwesenden mehrere tausend Teilnehmer aus Ungarn, Deutschland und Österreich, sondern ganz Europa, ja die ganze Welt symbolisch von der Zweiteilung und der Herrschaft der stalinistischen und poststalinistischen Diktatur.

Dr. Imre Tóth Historiker, Direktor des Soproner Museums

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